BFH-Urteil vom 28.11.2023, Az. X R 3/22
Schätzungsbefugnis bei Altkassen, deren objektive Manipulierbarkeit sich erst nach Jahren des Gebrauchs nachträglich herausstellt; zeitliche Erfassung von Gutscheinen bei Einnahmen-Überschuss-Rechnung

BFH X. Senat

AO § 145 Abs 2, AO § 158, AO § 162 Abs 1 S 1, AO § 162 Abs 1 S 2, AO § 162 Abs 2 S 2, EStG § 4 Abs 3, EStG § 11 Abs 1, FGO § 96 Abs 1 S 1, EStG VZ 2011 , EStG VZ 2012 , EStG VZ 2013 , EStG VZ 2014

vorgehend Niedersächsisches Finanzgericht , 13. April 2021, Az: 12 K 93/18

Leitsätze
1. Zur Begründung einer Schätzungsbefugnis dem Grunde und der Höhe nach darf der Tatrichter sich nicht mit der bloßen Benennung formeller oder materieller Mängel begnügen, sondern muss diese auch nach dem Maß ihrer Bedeutung für den konkreten Einzelfall gewichten.

2. Eine Vollschätzung unter vollständiger Verwerfung der Gewinnermittlung des Steuerpflichtigen ist nur zulässig, wenn die festgestellten Mängel gravierend sind.

3. Die Verwendung eines objektiv manipulierbaren Kassensystems stellt grundsätzlich einen formellen Mangel von hohem Gewicht dar, da in einem solchen Fall systembedingt keine Gewähr für die Vollständigkeit der Einnahmenaufzeichnungen gegeben ist.

4. Das Gewicht dieses Mangels kann sich in Anwendung des Verhältnismäßigkeits- und Vertrauensschutzgrundsatzes im Einzelfall auf ein geringeres Maß reduzieren. Das gilt insbesondere dann, wenn das Kassensystem zur Zeit seiner Nutzung verbreitet und allgemein akzeptiert war und eine tatsächliche Manipulation unwahrscheinlich ist.

5. Der in der Verwendung einer solchen objektiv manipulierbaren elektronischen Registrierkasse einfacher Bauart liegende formelle Mangel begründet keine Schätzungsbefugnis, wenn der Steuerpflichtige in überobligatorischer Weise sonstige Aufzeichnungen führt, die eine hinreichende Gewähr für die Vollständigkeit der Einnahmenerfassung bieten.

6. Bei elektronischen Registrierkassen einfacher Bauart werden Funktionen und Stand der festen Programmierung (Firmware) durch die Bedienungsanleitung dokumentiert. Änderungen von Einstellungen der Kasse sind vom Steuerpflichtigen im Zeitpunkt der Vornahme der Änderungen durch Anfertigung entsprechender Protokolle über die vorgenommenen Einstellungen zu dokumentieren (Präzisierung des Senatsurteils vom 25.03.2015 - X R 20/13, BFHE 249, 390, BStBl II 2015, 743, Rz 26 ff.).

7. Übergibt ein Kunde für eine Leistung des Steuerpflichtigen einen Rabattgutschein, auf den nach den Gutscheinbedingungen ein Dritter eine Zahlung an den Steuerpflichtigen leisten soll, fließt dem Steuerpflichtigen bei Gewinnermittlung durch Einnahmen-Überschuss-Rechnung eine Einnahme nicht bereits mit Übergabe des Gutscheins, sondern erst in dem Zeitpunkt zu, in dem der Dritte die Zahlung an den Steuerpflichtigen leistet.
Tenor
Die Revision wird als unzulässig verworfen, soweit der Kläger für das Jahr 2011 den Betriebsausgaben- und Vorsteuerabzug aus einer Rechnung der Fa. X über 9.748,48 € begehrt.

Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Niedersächsischen Finanzgerichts vom 13.04.2021 - 12 K 93/18 aufgehoben.

Die Sache wird an das Niedersächsische Finanzgericht zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung zurückverwiesen.

Diesem wird die Entscheidung über die Kosten des Verfahrens übertragen.

Volltext unter https://www.bundesfinanzhof.de/de/entscheidung/entscheidungen-online/detail/STRE202410062/